Die tägliche Empörung

In seinem Buch ‹Immer wieder samstags› schreibt Rainer Hörmann: «In der schwulen Welt ist Empörung fast schon Dauerzustand». Dieser Satz hat sich in meinem Kopf festgesetzt. Denn auch ich brauche täglich meine Dosis Empörung, die ich dann auch in meinem Blog – zelebriere.

Oder weshalb gebe ich Meldungen, wie beispielsweise diese eines Arztes in Australien, der einem Jugendlichen Tabletten zur Heilung dessen Homosexualität verabreicht hat, weiter? Wie interessant ist diese Empörung über einen homophoben Vorfall aus religiösen Gründen im fernen Australien für uns hier in der Schweiz wirklich? Verändert ein muslimischer Mr. Gay und stinknormaler Däne, der im zarten Alter von zehn Jahren konvertierte, weil er damals eine Menge muslimischer Freunde hatte, wirklich meine Empörung, dass Homosexuelle in muslimischen Ländern verfolgt oder gar getötet werden?

Empörung sei, so schreibt Rainer Hörmann weiter, «so dauerhaft, dass sie einem mitunter kaum noch auffällt». Nehmen wir also jährlich den Coming‐out‐Day nur deshalb so wichtig, damit wir uns wiedermal richtig empören können? Etwa darüber, dass die Anzahl Suizidversuche unter homosexuellen Jugendlichen bedeutend höher ist als unter gleichaltrigen Heterosexuellen?

Unlängst hat Peter Thommen, schwuler Buchhändler und Aktivist in Basel, im Facebook zum Projekt ‹Es wird besser› folgendes gepostet:

«Ich finde es schade, dass die ganze Aktion von der Heteropresse einfach totgeschwiegen wird. Das sagt ja wohl viel aus über die angebliche Toleranz. Am besten wir bringen uns schon als Kind um. Das erspart den Heteros alles. Amen!» 

Ähh? Kann ‹so was› nur ein LGBT-Aktivist schreiben, der seine tägliche Portion Empörung braucht, dabei den Blick zur Realität aber vielleicht längst verloren hat? Kaum!

Rückblende ans GayWest-Festival auf dem Berner Bundesplatz anfangs August. Für GAYRADIO befrage ich Aktivistinnen und Aktivisten, die an den Informationsständen von HAB, Network, Pink Cross, LOS und TGNS stehen, über die Symbolkraft, dass das Festival ausgerechnet am Ort des politischen Zentrums der Schweiz stattfinde. Alle meinen ‹toll›, das sei wichtig und ‹es gebe doch noch sehr viel zu tun›. Bei der gleichen Frage unter ‹gewöhnlichen› Besucherinnen und Besuchern des Festivals stelle ich aber fest, dass diese wohl das Bundeshaus – und die politische Tragweite des Festivals – gar nicht bemerkt haben. Sie sind nicht aus Empörung da, sondern wegen der ‹Folklore› auf der Bühne mit lesbischen Künstlerinnen und schwulen Künstlern und den zwei oder drei Dragqueens im Publikum.

Es stellt sich also auch die Frage, ob sich LGBT-Aktivistinnen und ‑Aktivisten anders empören als die ‹schweigende› Mehrheit der Schwulen und Lesben. Glaubt die ‹schweigende› Mehrheit den Politikern, die im Zusammenhang mit Homosexualität über «abnormales Verhalten» sprechen, aber eigentlich nichts gegen Schwule und Lesben haben? Glaubt die ‹schweigende› Mehrheit den Journalisten der ‹Weltwoche›, die immer wieder über Regenbogenfamilien schimpfen, aber eigentlich nichts gegen Schwule und Lesben haben? Glaubt die ‹schweigende› Mehrheit dem Papst, der das Ende der Menschheit erwartet, sobald Homosexuelle gleiche Rechte haben?

Und glaubt die ‹schweigende› Mehrheit den Leuten, die unsere Empörung auf die ‹weibliche Weinerlichkeit› von uns Homosexuellen zurückführen? Dabei liegt die tägliche Dosis an Empörung doch eigentlich an der tagtäglichen Diskriminierung.